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175 Jahre liberales Wien: Liberale Demokratien sind nicht selbstverständlich

Christoph Wiederkehr
Christoph Wiederkehr

Wenn uns der 175. Jahrestag der 1848er Revolution zwei Dinge lehrt, dann, dass Freiheit und Selbstbestimmung laufend erstritten werden müssen. Aber auch, dass es eine liberale österreichische Tradition gibt, an die es sich zu erinnern lohnt.

Am 13. März 1848 verlas der Arzt Adolf Fischhof im Hof des heutigen Palais Niederösterreich in der Wiener Herrengasse eine Rede. Diese erste freie Rede der Habsburgermonarchie, in der Fischhof die „verpestete Luft […], die unsere Nerven lähmt, unseren Geistesflug bannt“ anklagte, betonte er „dass die Zukunft der Dynastie an die Verbrüderung der verschiedenen Völker der Monarchie gebunden ist, und diese Verbrüderung […] mit Achtung der bestehenden Nationalitäten nur der Kitt der Konstitutionalität zustande bringen“ kann. Damit waren die Themen gesetzt: Freiheit, Mitbestimmung und eine alle Nationalitäten der Monarchie berücksichtigende Verfassung.

Der Versuch diese Forderungen in Form einer Petition an Kaiser Ferdinand I. zu übergeben, führte zur Eskalation. Die Demonstration der Bürger:innen löste bei der nervösen Obrigkeit Panik aus: Erzherzog Albrecht, der kommandierende General, erteilte den Schießbefehl. 46 Menschen starben. Noch am selben Tag dankte Fürst Metternich, der als Staatskanzler und Strippenzieher zum Symbol für das verkrustete absolutistische System und seinen Zensurapparat geworden war ab und verließ das Land. Am 15. März folgten die ersten Zugeständnisse des Kaisers: Die Abschaffung der Zensur und das Versprechen, eine Verfassung zu verabschieden.

Die Turbulenzen um die oktroyierte Märzverfassung, die ohne Beteiligung einer Volksvertretung verabschiedet wurde und daher abgelehnt wurde, sowie die gewaltsame Niederschlagung der Revolution im Oktober und die Abdankung Ferdinands I. zugunsten seines Neffen Franz Joseph I.  und die mit ihm folgende Phase des Neoabsolutismus führten dazu, dass die Revolution von 1848 – mit Ausnahme der Bauernbefreiung durch Hans Kudlich – meist als gescheiterte Revolution interpretiert wird.

Doch das greift zu kurz. Im Revolutionsjahr wurde vielfach die Saat für die politische Liberalisierung gesät, die in den folgenden Jahrzehnten langsam aufkeimen sollte. Noch im Jahr 1848 wurde der erste konstituierende Reichstag eröffnet und ermöglichte frühe parlamentarische Gehversuche. Die Aufhebung der Zensur führte auch zur ersten Hochblüte der Pamphlet- und Zeitungskultur und damit zu einer ersten medialen Öffentlichkeit. Als tief im akademischen und ökonomischen Bürgertum verwurzelte Bewegung hinterließ der Liberalismus darüber hinaus auch wortwörtlich politische Spuren, da die Expansion der staatlichen Aufgaben auf juristisch gebildete Beamte angewiesen war, die sich häufig als liberal verstanden. So kam es noch während des Neoabsolutismus zur teilweisen Umsetzung liberaler Politik, etwa durch die Gewährung der Hochschul-Autonomie unter dem Unterrichtsminister Leo Thun-Hohenstein. Der Neoabsolutismus endete 1867 mit dem Erlass der so genannten Dezemberverfassung. Sie definierte nicht nur die Gleichheit vor dem Gesetz, die Personenfreizügigkeit, Eigentumsrechte und fundamentale bürgerliche Freiheiten, sondern auch die Gleichberechtigung aller Völker der Habsburgermonarchie.

Nach dem Ende des Neoabsolutismus 1867 fanden sich in der Folge einige Akteure der Revolution in wichtigen politischen Positionen wieder und begründeten so die im engeren Sinne liberale Ära in Wien und in der Westhälfte der Habsburgermonarchie. Diese Regierungen – als „Bürgerministerium“ bezeichnet – verabschiedeten wesentliche Gesetze, deren Folgen zum Teil bis heute spürbar sind: In der Bildungspolitik, beim Verhältnis Staat-Kirche und bei der Frage der Rechtsstaatlichkeit.

  • Das Reichsvolksschulgesetz (1869) verlängerte die Schulpflicht von sechs auf acht Jahren, begrenzte die Schüler:innenzahl pro Klasse, Entzog die Aufsicht über das Schulsystem der Kirche, unterstellte dieses komplett der staatlichen Aufsicht und führte als weiterführende Schule die Bürgerschule ein, die auch von Mädchen besucht werden konnte.
  • Die Ehegerichtsbarkeit wurde ebenfalls der Kirche entzogen und den staatlichen Gerichten überantwortet, die Konfessionen wurden formal gleichberechtigt und 1870 schließlich das Konkordat aufgekündigt. Darüber hinaus konnte nun ab dem 14. Lebensjahr das Religionsbekenntnis – darunter auch die Angabe „ohne Bekenntnis“ – selbst entschieden werden.
  • 1871 wurde – vor allem wegen des Engagements des Ministers Joseph Unger – der Verwaltungsgerichtshof geschaffen.

Vielsagend sind jedoch auch jene Reformpläne, die scheiterten. Nicht nur, dass die liberalen Politiker Eduard Herbst, Eugen Mühlfeld und Ignaz Kuranda vehement, aber erfolglos, für die Aufhebung der Todesstrafe eintraten, gab es durch den Justizminister Emanuel Komers auch erstmalig den Vorschlag, Homosexualität zu entkriminalisieren.

DAS LIBERALE WIEN

Auch auf kommunaler Ebene war der politische Liberalismus die bestimmende Bewegung. Das liberale Wien ist untrennbar mit dem Namen Cajetan Felder verbunden, der mit Sicherheit der schillerndste Bürgermeister dieser Ära war. In seine Regierungszeit fielen der Bau der I. Wiener Hochquellwasserleitung, die Donauregulierung, die Schaffung des Wiener Zentralfriedhofs, sowie der Grundstein des Wiener Rathauses an der Wiener Ringstraße ebenso, wie die Wiener Weltausstellung von 1873. Die genannten Infrastrukturprojekte sind mittlerweile nicht nur ein wesentlicher Teil der Wiener Stadtkultur, sie waren im 19. Jahrhundert auch ein wesentlicher Beitrag zur Verbesserung der hygienischen Verhältnisse sowie der Bevölkerungsgesundheit und damit zur Lebensqualität.  

Was ist ungewöhnlich an der Politik Cajetan Felders und worin unterscheidet sie sich von jener, die nach ihm kam? Es ist nicht nur das umsichtige Regieren einer Millionen-Stadt inmitten des multiethnischen und multikonfessionellen Habsburgerreiches, sondern es ist auch die Haltung „die Politik aus [seinem] Programm gestrichen [..] und [sich] lediglich der Verwaltung [zugewandt zu haben]“. Diese Haltung war aber kein Defätismus, im Sinne von „verwalten statt gestalten“, sondern im Gegenteil eine Haltung, die gerade der Entfaltung der Bürger:innen verpflichtet war, wovon der Schwerpunkt der Infrastrukturpolitik zeugt.

Bildung, Grundrechte, Rechtsstaatlichkeit und Infrastrukturmaßnahmen waren die bestimmenden Politikfelder der liberalen Ära in Wien und auf staatlicher Ebene. Ziel war es, Ermöglichungsbedingungen für mündige Bürger:innen zu schaffen. Wien verdankt sein Gesicht auch den Maßnahmen Cajetan Felders. Die bis heute spürbare Schulpolitik geht ebenso auf liberale Initiativen zurück, wie jene Rechte, die wir heute für selbstverständlich halten. Dass das Ende der Todesstrafe und das Ende der Kriminalisierung von gleichgeschlechtlicher Liebe überhaupt ernsthaft diskutiert wurde zeigt, wie visionär und notwendig der politische Liberalismus war und ist. Wenn uns der 175. Jahrestag der 1848er Revolution zwei Dinge lehrt, dann, dass Freiheit und Selbstbestimmung laufend erstritten werden müssen. Aber auch, dass es eine liberale österreichische Tradition gibt, an die es sich zu erinnern lohnt. 

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